1997: Mein Luther-Bild
Von Raimund Vollmer (katholisch)
Der Name Martin Luthers wird natürlich vor allem verbunden mit dem Ablassbrief, der die Menschen aus und vor dem Fegefeuer retten sollte. Vor allem aber sollten die Erlöse aus der
Erlösung von den Sünden helfen, die Peterskirche in
Rom zu errichten. Es war ein prosperierendes Geschäft für die
Verkäufer der Titel. Marktschreierisch wurden sie in der Kirchenprovinz Magdeburg
von dem Dominikaner Johannes Tetzel
feilgeboten. Das erboste schließlich den Augustinereremitenmönch Martin Luther (1483‑1546), der gegen die
korrupte Kommerzialisierung des Glaubens antrat. Sein Protest gipfelte in dem
Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an der Schloßkirche in Wittenberg, mit dem
er über das Geschäft mit den Ablaßbriefen aufklärte. Ein Jahr später erscheint
seine in Deutsch verfaßte Streitschrift »Sermon von Ablaß und Gnade«, die in
wenigen Monaten eine Auflage von 20.000 Exemplaren erreicht. Und 1522 kommt
das Neue Testament in deutscher Sprache »auf den Markt«. Zu diesem Zeitpunkt
war die Zahl der Bücher in Europa auf mehr als neun Millionen gestiegen. Vor
Gutenberg waren es gerade einmal
30.000 gewesen. Das, was man später das »zweite Informations‑Zeitalter« nennen sollte, hatte begonnen. Mit
ihr zerfiel der Corpus Christianum,
zersplitterten sich der Glaube, die Wissenschaften teilten sich auf in immer
mehr Segmente und der geistige Zusammenhalt in Europa zerbarst. Luther galt als der »Zerstörer des großen
Kirchenbaus«, wie ihn der Publizist Joseph
Görres nannte.
Bibel & Nation. Aber es entstanden
auch neue Gemeinsamkeiten. Die Philosophen der Aufklärung, die ganz Europa
erfasste, nannten ihn ihren Vater, weil er das Prinzip der freien Rede
durchgesetzt hatte. Er wurde »zum Zeugen einer nur der Wahrheit verpflichteten
Forschung aufgeboten«, schrieb 1996 Gerhard
Besier, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Heidelberg.[1] Für Karl Marx war der Theologe ein theoretischer Revolutionär. So sehr
Luther ‑ zwar ungewollt ‑ mit seinen
Forderungen nach der Reform der katholischen Kirche den Glauben spaltete,
so sehr legte das »Sprachgenie« (Besier)
auch die kulturelle Grundlage für eine gemeinsame deutsche Nation. Die Bibel
war das meistgelesene Buch ‑ und zum ersten Mal konnten die Deutschen ihre
Sprache in all ihren Dialekten mit einem einheitlichen Text vergleichen. Luther schuf zwischen 1522 und 1534 mit
seiner kompletten Bibelübersetzung die moderne deutsche Sprache. Und sie
wurde akzeptiert, weil er »dem Volk aufs Maul« schaute. Er verlangte zudem,
dass in den Schulen nicht mehr Latein, sondern Deutsch die Lehrsprache sein
sollte. Außerdem sponserte er das erste deutsche Gesangsbuch, das eine Menge
von ihm komponierte Choräle und Lieder enthielt. “Martin Luther, eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens, war
außerordentlich musikalisch“, charakterisierte ihn 1945 Thomas Mann.[2]
Indem er Gott
nicht mehr als einen zornigen Richter, sondern als einen vergebenden Vater
definierte, sorgte er dafür, daß die Menschen »ein Gespür für Freiheit und Sicherheit«
bekamen, war er nach Meinung von Martin
Marty, Historiker an der Universität von Chicago so etwas wie ein Wegbereiter
der Menschenrechte und des Individualismus.[3] Religion wurde eine Sache
des Gewissens. Mit Luther vollzog
sich eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Existenz.
War vor ihm
die Wirklichkeit nur eine Funktion der Glaubenswelt, die alle menschlichen
Aktivitäten bestimmte, so entstand nun die säkularisierte Kultur, wie wir sie
heute kennen. Die Folge: Wir leben in einer »Kultur des Unglaubens«, wie es Stephen Carter, Professor an der
amerikanischen Yale University nennt.
In ihr haben religiös fundierte Argumente keinen Platz. So haben nach Aussage
von Carter in der - vor allem in den USA wütend geführten - Abtreibungsdebatte ethische, praktische oder soziologische
Argumente ihre Berechtigung, religiöse nicht. Wer sie ins Spiel
bringt, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, dass er mit seiner Argumentation
zugleich sein gesamtes Glaubensgebäude anderen aufzwängen will.[4] Nicht wenige meinen
derweil, daß diese Verweltlichung nun umschlägt in eine neue »globale
Spiritualität«, wie es 1994 Vaclav Havel,
der damalige Präsident der Tschechischen Republik nannte. In einem Vortrag an der Stanford University, dem Techno‑Tempel
des Silicon Valleys, beeindruckte er
seine Zuhörer mit der Aussage, dass demokratische Werte auf einer »geistigen
Dimension gründen, die alle Kulturen und besonders alle Menschen einigt«. Und
er erinnerte daran, dass nahezu alle Weltreligionen auf der uralten
Vorstellung basieren, dass »die gesamte Geschichte des Kosmos und besonders des
Lebens auf geheimnisvolle Weise gespeichert ist im Innern aller Menschen.«
Daraus leitet Havel das Entstehen eine »planetaren
Demokratie« ab.[5]
Es könnte sein, dass das Internet
genau der Ort wird, in dem diese »planetarische Demokratie« Wirklichkeit wird. Pater Richard John Neuhaus, Direktor
des Forschungsintituts Religion and
Public Life in New York, urteilt im Pflichtblatt des Kapitalismus, im Wall Street Journal: »Die Allianzen,
die der Kalte Krieg schuf, zerstreuen sich. Nur wenige sehen in den Vereinten
Nationen den Wegbereiter einer neuen Weltregierung. Es gibt natürlich die
globalen Märkte und Technologien. Obwohl sie sehr bedeutend sind, können sie
doch nicht den moralischen Zusammenhalt erzeugen, den die Menschheit
braucht.« Das kann allein ‑ »mangels eines besseren Wortes die Spiritualität«
leisten. Und dann zitiert Neuhaus den
französischen Schriftsteller und Kulturpolitiker André Malraux: »Das nächste Jahrhundert wird religiös sein oder
überhaupt nicht.«[6]
Als sich im August 1997 das katholische Frankreich für die Weltjugendtage
rüstete, befürchteten die Veranstalter, dass sie einen Riesenflop gestartet
hatten. Nur 70.000 Franzosen hatten sich angemeldet, um gemeinsam zu feiern und
den Papst zu sehen. Doch dann kam es ganz anders. 750.000 Menschen reisten an, ein Drittel aus
dem Ausland. Und die konservative Tageszeitung Le Figaro sprach von einem »spirituellen Erdbeben«.[7]
Das Streben der Menschen
nach Gemeinschaft ist ungebrochen.
Nachsatz 2017: Schon deshalb freue ich mich auf den heutigen Abend.
Forsetzung:
Was heute Google & Facebook darstellen, war vor zwanzig Jahren die Macht der Microsoft Corp. und deren Gründer Bill Gates. Damals befürchtete ich, dass dem Internet dasselbe passieren würde wie dem christlichen Glauben - es würde ein "Produkt der Mächtigen". Vor diesem Hintergrund setzte ich obigen Text wie folgt fort - und stelle heute fest: So weit weg von dem, was heute passiert, war ich gar nicht, oder?
"Wird nun das Internet die Peterskirche des nächsten Jahrtausends? Dann wäre es erneut ein Produkt der Mächtigen. 1506 hatte der Kunstmäzen Papst Julius II., der den Maler Raffael sponserte und dessen Grabmal Michelangelo schuf, den Grundstein für den Neubau des Doms gelegt. Mit dem Entstehen dieses Prachtbaus wurde die Zerrüttung der Kirche vollends deutlich. Als Nachfolger des berüchtigten und skrupellosen Papstes Alexander VI. war der Kirchenfürst, übrigens Vater dreier Töchter, 1503 selbst durch Bestechung ins Amt gekommen. Il Terrible (Der Schreckliche), wie er genannt wurde, wußte seine persönlichen Interessen zu wahren. Aber sie waren noch deckungsgleich mit denen der Kirche.[8] Vollends auf dem Weg der Verweltlichung befand sich dann nach seinem Tod 1513 die katholische Kirche. Der Medici‑Papst Leo X. kam an die Macht, und er war nun mit den überbordenen Finanzierungskosten der Basilica konfrontiert. 1514 erließ er ein Ablaßdekret, das sich der Markgraf von Brandenburg Albrecht II., Erzbischof von Magdeburg, für seine ehrgeizigen politischen Ziele zunutze machen suchte. Er wollte zusätzlich noch den Posten als Erzbischof von Mainz, um so zugleich Kurfürst zu werden. Ein höchst lukratives Amt, denn als Kurfürst hatte er Sitz und Stimme bei der Wahl des nächsten Kaisers. Dieses Stimmrecht ließ sich in bare Münzen oder neue Privilegien verwandeln. Für 24.000 Goldgulden, das entsprach den Jahreseinnahmen des Kaisers, übergab ihm Papst Leo die Pfründe. Natürlich hatte der Markgraf das Geld nicht zur Hand. Er lieh es sich bei den Fuggern, den Augsburger Frühkapitalisten. Zurückzahlen wollte er es durch die Hälfte der Einnahmen aus dem Ablaßbrief, die andere Hälfte ging nach Rom zur Finanzierung der Peterskirche. Bis zu 25 Goldgulden kostete ein Ablaß. Die Kirche war ein einziges korruptes Geschäft, ein »Königreich der Sünde«, wie es Luther nannte.
Nachsatz 2017: Wenn wir die Börsenkapitalisierung mancher Internet-Unternehmen anschauen, dann sind diese nur gerechtfertigt durch die immense Macht, die wir glauben, dass diese Firmen über unser Leben im Cyberspace haben
Forsetzung:
Was heute Google & Facebook darstellen, war vor zwanzig Jahren die Macht der Microsoft Corp. und deren Gründer Bill Gates. Damals befürchtete ich, dass dem Internet dasselbe passieren würde wie dem christlichen Glauben - es würde ein "Produkt der Mächtigen". Vor diesem Hintergrund setzte ich obigen Text wie folgt fort - und stelle heute fest: So weit weg von dem, was heute passiert, war ich gar nicht, oder?
"Wird nun das Internet die Peterskirche des nächsten Jahrtausends? Dann wäre es erneut ein Produkt der Mächtigen. 1506 hatte der Kunstmäzen Papst Julius II., der den Maler Raffael sponserte und dessen Grabmal Michelangelo schuf, den Grundstein für den Neubau des Doms gelegt. Mit dem Entstehen dieses Prachtbaus wurde die Zerrüttung der Kirche vollends deutlich. Als Nachfolger des berüchtigten und skrupellosen Papstes Alexander VI. war der Kirchenfürst, übrigens Vater dreier Töchter, 1503 selbst durch Bestechung ins Amt gekommen. Il Terrible (Der Schreckliche), wie er genannt wurde, wußte seine persönlichen Interessen zu wahren. Aber sie waren noch deckungsgleich mit denen der Kirche.[8] Vollends auf dem Weg der Verweltlichung befand sich dann nach seinem Tod 1513 die katholische Kirche. Der Medici‑Papst Leo X. kam an die Macht, und er war nun mit den überbordenen Finanzierungskosten der Basilica konfrontiert. 1514 erließ er ein Ablaßdekret, das sich der Markgraf von Brandenburg Albrecht II., Erzbischof von Magdeburg, für seine ehrgeizigen politischen Ziele zunutze machen suchte. Er wollte zusätzlich noch den Posten als Erzbischof von Mainz, um so zugleich Kurfürst zu werden. Ein höchst lukratives Amt, denn als Kurfürst hatte er Sitz und Stimme bei der Wahl des nächsten Kaisers. Dieses Stimmrecht ließ sich in bare Münzen oder neue Privilegien verwandeln. Für 24.000 Goldgulden, das entsprach den Jahreseinnahmen des Kaisers, übergab ihm Papst Leo die Pfründe. Natürlich hatte der Markgraf das Geld nicht zur Hand. Er lieh es sich bei den Fuggern, den Augsburger Frühkapitalisten. Zurückzahlen wollte er es durch die Hälfte der Einnahmen aus dem Ablaßbrief, die andere Hälfte ging nach Rom zur Finanzierung der Peterskirche. Bis zu 25 Goldgulden kostete ein Ablaß. Die Kirche war ein einziges korruptes Geschäft, ein »Königreich der Sünde«, wie es Luther nannte.
Nachsatz 2017: Wenn wir die Börsenkapitalisierung mancher Internet-Unternehmen anschauen, dann sind diese nur gerechtfertigt durch die immense Macht, die wir glauben, dass diese Firmen über unser Leben im Cyberspace haben
[1] Die Welt, 6.1.1996, Gerhard Besier: »Held, Narr
oder nur ein Mensch?«
[3] Time, 17.10.1983, Richard N. Ostling, Roland Flamini, Wanda
Mencke‑Glückert: »Luther: 500 Years Young«
[4] Time, 15.6.1998, Charles Krauthammer: »Will it be coffee, tea or
He? «
[5] Time, 28.11.1994, Kenneth L. Woodward: »On the road again«
[6] Wall Street Journal, 11.7.1995, Richard John Neuhaus: »The
Religious Century Nears«
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