Am Donnerstag, 22- September war nach drei Jahren Pause die Hauptversammlung des Altenburger Geschichts- und Heimatvereins. Als Vorsitzender dieses 2009 gegründeten Vereins habe ich versucht, die Zeit, die wir gerade durchleben, einmal zu reflektieren. Vielleicht ging es Ihnen ähnlich beim Nachsinnen über diese Zeit, die ja einen regelrechten Zeitbruch darstellt.
Raimund Vollmer
"… Wir leben gerade in einer Zeit, in der beides ungemein wichtig wird – Heimat und Geschichte.
Das sind unsere Themen. Heimat und Geschichte. Sie sind der Grund, warum es uns gibt. Als Verein.
Einige von uns sind nicht hier geboren, nicht aufgewachsen, haben sich mehr zufällig hier niedergelassen – mitsamt der Familie. Ich gehöre auch dazu und habe mich immer wieder gefragt: Ist Altenburg meine Heimat?
Ich bin ehrlich: Ich frage mich das immer wieder, meistens verneine ich sie. Altenburg ist seit 1981 mein Zuhause. Aber die Frage allein führte dazu, dass ich den Ort und vor allem seine Menschen kennenlernen möchte. Mich interessiert die Geschichte dieses Dorfes, das ja Teil einer weitaus größeren Geschichte ist, der Weltgeschichte. Das spüren wir gerade jetzt.
„Man spielt ein Spiel solange, bis einen das Spiel spielt“, hat der Jahrhundertphilosoph Hans-Georg Gadamer vor dreißig Jahren geschrieben. Wir spielen auch unsere Spiele, hier in diesem Dorf, in unseren Vereinen, in unseren privaten und beruflichen Zirkeln. Aber dann – sei es nun ein Virus oder eine militärische Spezialoperation – merken wir, dass wir gespielt werden, dass wir Teil eines Geschehens sind, das wir gar nicht mehr mitbestimmen können. Wir verstecken uns, gezwungenermaßen hinter einer Maske, zuhause, im Lockdown. Das Spiel ist plötzlich aus. Und kaum will es wieder losgehen, kommt schon der nächste Knockout. Da ist das, was man Gesellschaft nennt, sehr bald zu Ende. Wir können uns kaum noch aufraffen.
Derselbe Philosoph sagt aber auch, dass ihn in seinen schlimmsten Tagesträumen die Angst umtreibt, dass an der Spitze der Bürokratie niemand mehr sei – wir also ohne Führung seien, ohne jemanden, der in der Verantwortung steht. Wenn wir uns umschauen, müssen wir eigentlich zu dem Schluss kommen, dass Gadamers Angstträume wahrgeworden sind. Über uns waltet eine mächtige Bürokratie, die im Kampf gegen unser Schicksal nichts anderes tun kann, als uns einen Waschlappen zu reichen.
Wir sind und wir werden überwältigt von einer Zeit, die uns erbarmungslos auf uns selbst zurückwirft – auf unsere kleine Existenz. Irgendwie fühlen wir uns alleingelassen. Und das macht uns kirre. Jedenfalls ging es mir so – und ich habe mich in den vergangenen drei Jahren in mich selbst verkrochen. Ich glaube, manch anderem ging es ähnlich. Es war ein Schock. Eine Zeit war zu Ende, eine Epoche.
Wir leben seitdem – ich möchte es einmal so nennen – in der Ich-Zeit. Das Ich besteht aus der Familie und ein paar Freunden, manchmal sogar nicht einmal mehr daraus. Eigentlich werden wir zurückgestoßen in unsere Kindheit.
In die Zeit, die der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz als einen Schock erlebte – mit umgekehrten Vorzeichen. Als er, 1914 geboren, im Alter von sechs Jahren war, erlebte er, wie seine Schwester ihm ein Bild von Kriegsheimkehrern zeigte. Und da spürte der kleine Octavio zum ersten Mal, dass es nicht nur seine persönliche Zeit gab, sondern auch eine geschichtliche, eine allgemeine Zeit. Er wurde aus seinem Paradies, „buchstäblich aus der Gegenwart vertrieben“. „Von nun an“, so schrieb er 1992, „begann die Zeit in immer mehr Bruchstücke zu zerfallen. Auch gab es nun nicht mehr den einen Raum, sondern eine Vielfalt von Räumen. Und diese Erfahrung wiederholte sich immer wieder. Irgendeine Meldung, ein harmloser Satz, die Schlagzeile einer Zeitung: alles bewies die Wirklichkeit dieser Außenwelt und zugleich meine eigene Unwirklichkeit.“
„Meine Zeit“ gab es fortan für ihn nicht mehr, sie war als „fiktive Zeit“ entlarvt. Eine solche „Vertreibung aus der Gegenwart“, so möchte ich einmal wagen zu sagen, geschieht jedem von uns.
So seltsam das klingt, der Lockdown hat uns in diese Gegenwart zurückgeholt, in unsere eigene, ganz persönliche Zeit. Nur haben wir festgestellt, dass wir damit sehr wenig anfangen können.
Aber wir müssen anfangen. Dabei kommt nun unser kleiner Verein wieder ins Spiel – in ein Spiel, das wir selbst bestimmen, in dem Heimat und Geschichte eine Rolle spielen, wir von uns aus, selbstbestimmt, über diese Welt urteilen.
Ich glaube, dass ich mir eine solche Heimat gewünscht habe, als vor bald 20 Jahren die Sache mit dem Bildertanz hier in Altenburg begann. Deswegen bin ich vor allem meinem Freund Jürgen Reich sehr dankbar, dass er geholfen hat, 2009 diesen kleinen Verein zu gründen. Und ich wünsche mir, dass es Euch ähnlich geht, dass auch ihr in dem offenen Austausch von Gedanken und Erinnerungen eine Heimat seht.
Wir würden damit auch einen Herzenswunsch von Gudrun erfüllen, die sich immer einen Stammtisch gewünscht hatte – einen Stammtisch, der andererseits doch kein Stammtisch ist, sondern eine Gesprächsrunde, in der Themen diskutiert werden – offen und angstfrei. Denn das war ja eigentlich mal unsere Zeit, unsere persönliche Zeit. Nehmen wir uns diese Zeit und retten wir sie in die neue Epoche, über die wir auch mal reden sollten – hier in Altenburg, nicht in Berlin oder Moskau. Wir sind selbst – unser Topp-Thema, liebe Gudrun.
Das wünsche ich mir von ganzem Herzen. Und es wäre schön, wenn ich dafür Euer Vertrauen bekäme, wenn heute die Wahlen anstehen und wir über unser Programm reden"
Vorstand und Beirat wurden alle einstimmig gewählt. Es war eine sehr lebhafte Sitzung, die bei der Diskussion über unser Programm am 13. Oktober fortgesetzt wird. Wir werden darüber noch berichten.
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