Freitag, 2. Oktober 2015

Unsere Straßenbahn und die Kriegsgefangenen (1)

Bernd Madel, der wie nur noch Wolf-Rüdiger Gassmann die Geschichte der Reutlinger Straßenbahn aufgearbeitet hat, berichtet in den Reutlinger Geschichtsblättern des Jahres 1995 (Thema: Kriegsende) über "Aspekte aus der Geschichte der Straßenbahnen in Reutlingen 1930 bis 1950". Vor 75 Jahren kamen die ersten Kriegsgefangenen zur Straßenbahn Reutlingen-Altenburg, der späteren Linie 3. Sie wohnten zuerst in Oferdingen und ab 1942 in Altenburg. Bernd fand sogar die Namen der französischen Kriegsgefangenen heraus. Wir zitieren aus seinem hervorragend recherchierten Bericht: 

"Eine weitere Möglichkeit zum Abbau personeller Engpässe  - neben der Einstellung von weiblichem Personal im Fahrdienst - bot sich der Verwaltung der städtischen Straßenbahn Reutlingen-Altenburg schon im Jahre 1940. Ähnlich wie später ande4re städtische Dienststellen konnte sie sich der Gemeinde Oferdingen anschließen, die im Juli 1940 auf Anregung des Arbeitsamtes Reutlingen zehn französische Kriegsgefangene für die dortigen Landwirte angefordert hatte.
Am 11. September 1940 erhielt die städtische Straßenbahn fünf französische Kriegsgefangene. René Bray, 24 Jahre, Pierre Briot, 25 Jahre, Lucièn Coupechoux, 23 Jahre, Georges Léonhard, 22 Jahre, und George Piaux, 36 Jahre.
Die fünf Männer waren gemeinsam mit den in der Landwirtschaft beschäftigten Gefangenen untergebracht. Die Gemeinde Oferdingen hatte dafür das Haus Nr. 4 vollständig gemietet und die zugehörige Ausrüstung wie Strohsäcke und Decken angeschafft. Das 'Gefangenenlager' ('Franzosenhaus') wurde vom ortsansässigen Schmied mit Schlössern versehen; der Schreiner lieferte die Doppelbettladen, reparierte Böden, Türen und Abort. Für die Hygiene sorgte der Bäcker: Bei ihm durften die Gefangenen Wannenbäder nehmen, wofür ihm die Gemeindekasse 3 Reichsmark und 20 Pfennig pro Monat zahlte.
Verpflegt wurden die Männer der Straßenbahn vom Wagenmeister und Werkstattleiter Otto Bader bzw. wohl seiner Frau, die im Wohnhaus der Wagenhalle lebten. Als ab Dezember 1941 due zehn in der Landwirtschaft eingesetzten Oferdinger Kriegsgefangenen in Eningen arbeuten mussten und laut Anweisung des Arbeitsamtes Lager unter zehn Gefangenen aufgelöst werden sollten, wurden die vier Straßenbahner ab Januar 1942 nach Altenburg verlegt.
Dort waren im Saal des Gasthauses "Zum Adler", Gebäude (heute Hauptstraße) Nr. 73, die bei Altenburger und Sickenhäuser Landwirten beschäftigten französischen Kriegsgefangenen untergebracht. In einem etwa 8 x 15 m großen Raum (einschließlich Bühnenanbau) übernachteten bis zu 22 Gefangene. Wie eine Schaffnerin berichtet, wurden die Kriegsgefangenen jeden Morgen mit der Straßenbahn von Altenburg nach Oferdingen gebracht - begleitet von einem uniformierten Wachmann mit Gewehr - und abends wireder abgeholt.
Am 20. Juni 1942 wurden Georges Piaux und Georges Léonhard nach Mittelstadt 'abkommandiert'. Über zwei Jahre arbeiteten nun nur noch zwei Franzosen bei der Straßenbahn, bis René Bray am 23. August 1945 'dienstunfähig gestellt' wurde. Lucièn Coupecho arbeitete bis zum Einmarsch. Er und sämtliche im April 1945 noch beschäftigten Kriegsgefangene des Altenburger Arbeitskommandos "kehrten Ende April 1945" nach Frankreich zurück."

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