Der Mensch lebt nicht vom Beton allein
Wie immer bei der konstituierenden Sitzung des
Bezirksgemeinderates: Ein Rückblick auf die letzte Ehrenamtsperiode der elf
Ortschaftsräte, aber kein Ausblick auf das, was an neuen Projekten in den
kommenden fünf Jahren angepackt werden soll. Der alte und neue
Bezirksbürgermeister, Frank Hofacker, der wie alle anderen in Extraämter gehobenen
Mitglieder elf Stimmen hinter sich wusste, hatte für die abgelaufene Amtszeit vor
allem Bauprojekte als Leistung genannt, sei es der momentane Bau der neuen
Ortsmitte, sei es die fortgeschrittene Neuverdolung des Erlenbachs, sei es die
erfolgreiche Abwehr von Mahden II, sei es die Erweiterung der Feuerwache - es
ging ums Bauen, traditionell die Lieblingsvorhaben aller Kommunalpolitiker, und
um den Verkehr, ein nicht ganz so angenehmes Thema in Altenburg. Ein paar Projekte,
ebenfalls in den letzten fünf, zehn Jahren auf den Weg gebracht, warten noch in
den Startlöchern - wie etwa das Neubaugebiet in der oberen Moselstraße oder der Start des neuen Buskonzeptes. Die Moselstraße
sollte eigentlich schon längst fertig sein, aber Grundstücksverhandlungen sind
nicht immer einfach - auch nicht in Altenburg, diesem "Stadtbezirk",
auf den gestern abend sieben "alte" und vier "neue" Ortschaftsräte
vereidigt wurden. Sie wurden auch auf die Stadt Reutlingen verpflichtet, zu der
Altenburg durch eine mehr oder minder freiwillige Eingemeindung seit 1972 gehört. Dem
Chef des Dorfparlamentes, Frank Hofacker, zur Seite stehen nun zwei
stellvertretende Bezirksbürgermeisterinnen. Wie schon zuvor ist dies Tanja
Münch, und ganz neu dabei ist Johanna Böck, die mit ihren 20 Jahren das jüngste
Mitglied im Altenburger Rat ist - wahrscheinlich sogar seit Menschengedenken.
Altenburg mit Baustelle 2019 |
Altenburg ohne Baustelle 2017 |
Die Ämter sind verteilt - vier Bezirksgemeinderäte mit
insgesamt über 80 Jahren Erfahrung im Rat des Dorfes wurden verabschiedet. Fortan
ist der Blick auf die Zukunft gerichtet. Dass da gestern noch nichts zu sehen
war, mag man bedauern. Solange sich die grobe Richtung mit monotonem Ernst aus
Bauen und Verkehr konfigurierte, war das ja auch nicht weiter zu hinterfragen.
Wird das aber in den nächsten fünf, zehn oder 15 Jahren so bleiben?
Wahrscheinlich nicht. Die weitaus schwierigeren Themen, die sich unter dem
Rubrum Klimaschutz oder demographischer Wandel technisch zusammenfassen lassen, treffen
die Bürger direkt in ihrem Verbrauchsverhalten und in der Neuordnung ihres
Wohlstandes. Es geht sogar um unser Selbstverständnis. Es sind in zunehmenden
Maße mentale und emotionale Themen. Es geht um Rechte und Pflichten. Es geht um
Identifikation und Integration. Es geht um Natur und Kultur. Es geht um Technik
und Wirtschaft. Es geht durchweg um Themen, die sich nicht baulich äußern,
sondern intellektuell. Es geht um Gedankengebäude - um neue und alte. Es geht
um die Nähe zu den Bürgern, die in einem Dorf, einer Stadt, mehr sehen als eine einigermaßen intakte Versorgungsanstalt.
Gelingt es dem neuen Dorfparlament seine Aufgaben und Themen
"in emotionale Realitäten" zu verwandeln, um mit dem Dramatiker Friedrich Dürrenmatt
zu sprechen, dann ist Altenburg immer auch "Heimat", wenn nicht, dann
wird dieser Stadtbezirk genau das, ein reiner Stadtbezirk, "eine bloße
Institution", die uns eine Ideologie zu bieten hat, der wir nicht mehr
glauben. Es fehlt jegliche emotionale Strahlkraft, es bleibt nur Beton, mit dem
sich keiner wirklich zu identifizieren vermag.
Solange wir darüber diskutieren, ob die neue Ortsmitte einen
Bäcker, Metzger oder Wirt ernährt, haben wir kein bisschen Identifikation, kein
Stück "Heimat" geschaffen. Wenn wir aber durch unseren Ort spazieren,
wirklich spazieren und nicht neckargassenhaft durcheilen, wenn wir mitten unter
uns sind, wie es alle zwei Jahre beim Dorffest oder im Turnus beim Neckarfest zu
sein scheint, dann verwandelt sich Altenburg wieder von einem Stadtbezirk zu
einem Dorf - mit Eigenleben und Lebensfreude.
Die Moderne, auch die Postmoderne, von der wir uns unter
großen Mühen verabschieden, schaute voller Verachtung auf die Romantik. Mit
gutem Grund: die Romantik blickte in eine Zukunft jenseits allen technischen Fortschritts,
den sie in ihren Märchen und Fabeln längst vorweggenommen hatte.Der Zauber von gestern ist die Technik von heute.
Altenburg - allein der Name verheißt Romantik. Ob unser Ort seinem
Worthorizont gerecht wird, entscheidet zwar nicht unser Elferrat, aber er könnte
ein Beispiel geben.
Dies wünscht sich Raimund Vollmer, der gestern auf den Tag
genau, diesem Gremium zehn Jahre angehörte und seinen Platz gerne freigemacht
hat - für die Zukunft, die mehr ist als ein bisschen technischer Fortschritt.
Danke Raimund für die 10 Jahre, die du dich zum Wohl Altenburg eingebracht hast. Trotz der sehr langen Riesen-Baustelle: die Weichen für die Zukunft sind gestellt.
AntwortenLöschenUnd danke auch an alle anderen ausscheidenden Ratsmitglieder.
Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob es uns gelungen ist, die Weichen zu stellen. Das ist es, worüber ich mir gerade sehr viele Gedanken mache - nicht nur in Bezug auf Altenburg, sondern grundsätzlich. Wir leben hier in einer ziemlich geschützten Komfortzone. Aber eigentlich müssten wir, wenn wir nicht nur für den Augenblick leben wollen, da heraus - und (so möchte ich mal provozieren) wieder anfangen zu leben.
AntwortenLöschenInwiefern geschützt? Auf was genau bezogen?
AntwortenLöschenBesser wäre es wohl von "ummauert" zu sprechen. Danke für den Hinweis.
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