Mittwoch, 3. April 2019

Temmaland: Hat Tante Emma eine Chance?

 Erstveröffentlichung am 19. August 2013

 AUS AKTUELLEM ANLASS - UNSERE NEUE ORTSMITTE

Kommentar. Vor einiger Zeit veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrem Wirtschaftsteil einen Bericht über die wachsende Bedeutung von Tante-Emma-Läden. Die Supermarktkette Rewe habe für Wohnviertel mit hoher Kaufkraft ein Konzept entwickelt, in dem Menschen in den neuen Läden nicht nur Bioware einkaufen können, sondern es auch kleine gastronomische Einheiten gäbe. Temma heißt das Projekt. Und die Wirtschaftsprüfung KPMG hat unter der Überschrift "Tante Emma reloaded" eine Studie veröffentlicht, in der den kleinen Dorfläden eine gute Zukunft vorhergesagt wird - wohl vor allem dann, wenn sie eingebunden sind in die Konzepte großer Ketten. (Von Großkunden lebt ja KPMG.) Das Ganze müsste demnach der Altenburger Vorstellung von einer neuen Ortsmitte sehr entgegenkommen. Mit Romantik - wie sie unser Foto zu suggerieren scheint - hat das aber nichts zu tun. Es ist eher eine Spätfolge der Urbanisierung. Selbst kochen, warum, wenn es jede Menge Fast-Food und andere Schnellimbisse um die Ecke gibt? Supermärkte auf der grünen Wiese anfahren, um dann nach einem Run durch die Regale den Kofferraum mit der Wochenration vollzupacken, warum, wenn man eigentlich gar kein Auto mehr haben möchte, sondern lieber um die Ecke einkauft, dort, wo man schon sein Mittagessen genossen hat? Wer bei uns im Industriegebiet Mahden arbeitet, kann doch auch seine Mittagszeit in der fußläufig erreichbaren Ortsmitte verbringen. Bei Essen & Trinken mit anschließenden Kurzeinkauf?
Kann sein, dass solche und ähnliche Überlegungen über die Veränderungen im Kauf- und Mobilitätsverhalten dazu führen, dass irgendeine Kette den Ort Altenburg entdeckt. Natürlich müssten wir dafür ganz andere Konzepte des Öffentlichen Personen-Nahverkehrs haben. Natürlich müssten wir Bürger bereit sein, unser eigenes Dorf zu entdecken. (Frage: Warum haben wir das längst noch nicht getan - und da nehme ich mich selbst nicht aus?) Was hindert uns eigentlich daran, unser Dorf wieder zu einem Dorf zu machen (und nicht zur Schlafburg Reutlingens oder Stuttgarts)?
Ich persönlich glaube, dass die Antwort darauf nicht in den Zahlenwerken liegt, mit denen Studien versuchen, bestimmte Trends zu erfassen. Den Trend zurück zur Urbanität der 50er Jahre, als Arbeitsplatz und Heim noch fußläufig erreichbar waren, hat heute nichts mit Rationalität zu tun, sondern mit Emotionalität. Die jungen Leute genießen die Infrastruktur der Städte. Sie, die in ihrer Kindheit von den Eltern von einem Termin zum anderen hin und her gekarrt wurden, wollen die Nähe und die Wahlfreiheit. Dieser Trend wird auch nicht vor den stadtnahen Dörfern haltmachen. Sie sind in den letzten 30 Jahren nichts anderes geworden als die Funktionsstätten eines viel zu rationalen Wirtschaftsmodells. Dieses Modell wird sich schneller überleben, als viele denken.
Menschen wollen Emotionen. Diese bekommen sie aber nur, wenn Menschen zusammenkommen. Die Tante Emma war deswegen so beliebt. Ein Treffpunkt. Ein Markt für Gerüchte, Gerede und Geraune. Hie und da sieht man, dass in Altenburg wieder Bänke vor dem Haus stehen. Sie laden ein zu einem Feierabend, den gemeinsam zu genießen wir uns aber noch nicht trauen, weil wir uns zulange uns in unsere eintrainierte Privatheit verkapselt haben. Ab und zu hat man das Gefühl: Hier entsteht eine emotionale Mitte. Aber dann sieht man am nächsten Tag, dass dort, wo man sich traf, alles zugeparkt ist - und niemand mehr kommt.
Was wir brauchen, ist mehr Mut zur Emotionen. Dann bekommen wir auch eine Orts-Mitte. So aber werden wir damit rechnen müssen, dass irgendeine Kette bei uns irgendwann ein Zahlenkonzept realisiert: Das Dorf als Fortsetzung der Grünen Wiese. Ein kaltes Projekt. Eine Versorgungseinheit.
Ich persönlich fürchte, dass es letztlich darauf hinausläuft, auch wenn das Dorffest ein ganz klein wenig Hoffnung in die andere Richtung macht. Aber nur ein ganz klein wenig.
Raimund Vollmer

6 Kommentare:

  1. Lieber RV, sehr guter Kommentar und sehr nachvollziehbare Gedanken. Jeder muss bei sich selber anfangen. Und wenn wir je mal wieder einen Lebensmittelmark tin Altenburg haben, nicht (wieder) nach Rommelsbach oder Pliezhausen fahren, weil dort das Salz 2 Cent billiger ist.

    AntwortenLöschen
  2. Danke für diesen guten Kommentar. Ich stimme allem zu.

    AntwortenLöschen
  3. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

    AntwortenLöschen
  4. Natürlich hatte ich bis heute, 4. April 2019, keine Ahnung, in welchem Ton hier plötzlich argumentiert wird und Menschen herabgesetzt werden. Ich betrachte diesen Kommentar als "Null". Er wurde ja auch um 0.06 Uhr geschrieben. Die letzte Ziffer ist offensichtlich eine Selbstzensur des anonymen Schreibers.

    AntwortenLöschen
  5. Ich hoffe sehr, dass hier "irgendeine Kette ihr Zahlenkonzept realisieren" wird.
    Weit besser als irgend so ein "emotionales Dorfkonzept", bei dem die "Vordenker" von sich selbst ausgehen und Sachen hineinquirlen, die sie in einer Zeitung gelesen haben.
    Beim nächsten verträumten Kommentar bitte einmal erwägen, ob anstelle "die Menschen wollen" es nicht passender wäre "Ich will" zu schreiben.

    AntwortenLöschen
  6. Ich glaube, dass ich ziemlich deutlich zum Ausdruck gebracht habe, dass diese meine persönliche Einstellung ist.

    AntwortenLöschen