Montag, 27. März 2017

Heute abend: Luther in Altenburg

Er gilt als Mann des Jahrtausends - mit ihm, durch ihn und nach ihm vollzog sich ein unglaublicher Wandel, dem wir heute unseren Wohlstand zu verdanken haben. Heute abend wird uns Marcus Bogner erzählen, wie Luther auf unsere Heimat wirkte - und wir sind sehr gespannt. Zur Einstimmung habe ich einmal in meinen eigenen Manuskripten herumgestöbert, weil ich mich erinnerte, dass ich mich mit ihm im Zusammenhang mit dem Entstehen des Internets und der modernen Wissensgesellschaft beschäftigt hatte. Zwanzig Jahre ist es her. Ich habe ihn damals wohl sehr bewundert (und nach der erneuten Lektüre ist es mir jetzt nicht anders gegangen). Ich hoffe, dass es nicht als zu vermessen gilt. wenn ich dieses Kapitel hier veröffentliche.

1997: Mein Luther-Bild
Von Raimund Vollmer (katholisch)




Der Name Martin Luthers wird natürlich vor allem verbunden mit dem Ablassbrief, der die Menschen aus und vor dem Fegefeuer  retten sollte. Vor allem aber sollten die Erlöse aus der Erlösung von den Sünden helfen, die Pe­ters­kirche in Rom zu errichten. Es war ein pro­spe­rierendes Ge­schäft für die Verkäufer der Titel. Markt­schreie­risch wurden sie in der Kirchenprovinz Mag­deburg von dem Dominikaner Johannes Tet­zel feil­ge­boten. Das er­boste schließlich den Augustinereremitenmönch Martin Luther (1483‑1546), der gegen die korrupte Kommerzialisierung des Glaubens antrat. Sein Protest gipfelte in dem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an der Schloßkirche in Wittenberg, mit dem er über das Geschäft mit den Ablaßbriefen aufklärte. Ein Jahr später er­scheint sei­ne in Deutsch verfaßte Streitschrift »Sermon von Ablaß und Gnade«, die in wenigen Monaten eine Auflage von 20.000 Exem­pla­ren erreicht. Und 1522 kommt das Neue Testament in deutscher Spra­che »auf den Markt«. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Bücher in Eu­ro­pa auf mehr als neun Mil­lionen gestiegen. Vor Gu­ten­berg waren es ge­ra­de einmal 30.000 ge­we­sen. Das, was man später das »zweite In­for­mations‑Zeit­al­ter« nennen sollte, hatte be­gonnen. Mit ihr zerfiel der Corpus Christianum, zersplitterten sich der Glaube, die Wissen­schaften teilten sich auf in immer mehr Seg­men­te und der geistige Zusammenhalt in Europa zer­barst. Luther galt als der »Zer­störer des gro­ßen Kirchenbaus«, wie ihn der Publizist Joseph Görres nannte.
Bibel & Nation. Aber es entstanden auch neue Gemeinsamkeiten. Die Philosophen der Aufklä­rung, die ganz Europa erfasste, nannten ihn ihren Vater, weil er das Prinzip der freien Rede durchgesetzt hat­te. Er wurde »zum Zeugen einer nur der Wahrheit verpflichteten Forschung aufgeboten«, schrieb 1996 Gerhard Besier, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Heidelberg.[1] Für Karl Marx war der Theologe ein theoretischer Re­volutionär. So sehr Lu­ther ‑ zwar ungewollt ‑ mit seinen For­de­rungen nach der Reform der ka­tholischen Kirche den Glauben spal­tete, so sehr legte das »Sprachgenie« (Besier) auch die kulturelle Grund­lage für eine ge­mein­same deutsche Nation. Die Bibel war das meist­ge­le­sene Buch ‑ und zum ersten Mal konnten die Deutschen ihre Sprache in all ihren Dialek­ten mit einem einheit­li­chen Text ver­glei­chen. Luther schuf zwischen 1522 und 1534 mit seiner kom­plet­ten Bibelübersetzung die moderne deutsche Sprache. Und sie wurde ak­zep­tiert, weil er »dem Volk aufs Maul« schaute. Er verlangte zudem, dass in den Schulen nicht mehr La­tein, sondern Deutsch die Lehr­spra­che sein sollte. Außerdem sponserte er das erste deutsche Gesangs­buch, das eine Menge von ihm komponierte Choräle und Lieder enthielt. “Martin Luther, eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens, war außerordentlich musikalisch“, charakterisierte ihn 1945 Thomas Mann.[2]
Indem er Gott nicht mehr als einen zornigen Rich­ter, sondern als einen vergebenden Vater definierte, sorgte er da­für, daß die Menschen »ein Gespür für Freiheit und Si­cherheit« be­kamen, war er nach Meinung von Martin Marty, Historiker an der Universität von Chicago so etwas wie ein Weg­be­reiter der Men­schen­rechte und des Individualismus.[3] Religion wurde eine Sache des Gewissens. Mit Luther vollzog sich eine Trennung zwi­schen privater und öffentlicher Existenz.
War vor ihm die Wirk­lichkeit nur eine Funktion der Glaubenswelt, die alle menschlichen Aktivitäten be­stimmte, so entstand nun die säkularisierte Kultur, wie wir sie heute kennen. Die Folge: Wir leben in einer »Kultur des Unglaubens«, wie es Stephen Carter, Professor an der amerikanischen Yale University nennt. In ihr haben religiös fundierte Argumente keinen Platz. So haben nach Aussage von Carter in der - vor allem in den USA wütend geführten - Abtreibungsdebatte ethische, praktische oder soziologische Argumente ihre Berechtigung, religiöse nicht. Wer sie ins Spiel bringt, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, dass er mit seiner Argumentation zugleich sein gesamtes Glaubensgebäude anderen aufzwängen will.[4] Nicht wenige meinen derweil, daß diese Verweltlichung nun umschlägt in eine neue »globale Spiritualität«, wie es 1994 Vac­lav Havel, der damalige Präsident der Tschechischen Republik nannte. In einem Vortrag an der Stanford University, dem Techno‑Tempel des Silicon Valleys, beeindruckte er seine Zuhörer mit der Aussage, dass demokratische Werte auf einer »geistigen Dimension grün­den, die alle Kulturen und besonders alle Menschen einigt«. Und er erinnerte daran, dass nahezu alle Welt­re­li­gionen auf der uralten Vorstellung basieren, dass »die gesamte Ge­schichte des Kosmos und besonders des Lebens auf geheimnisvolle Weise gespeichert ist im Innern aller Menschen.«
Daraus leitet Havel das Entstehen eine »pla­ne­taren Demo­kra­tie« ab.[5] Es könnte sein, dass das Internet genau der Ort wird, in dem diese »planetarische Demokratie« Wirklichkeit wird. Pater Ri­chard John Neuhaus, Direktor des Forschungsintituts Re­li­gion and Public Life in New York, urteilt im Pflichtblatt des Ka­pi­talismus, im Wall Street Journal: »Die Allian­zen, die der Kalte Krieg schuf, zer­streuen sich. Nur wenige sehen in den Vereinten Nationen den Weg­bereiter einer neuen Weltregie­rung. Es gibt natür­lich die glo­ba­len Märkte und Technologien. Obwohl sie sehr be­deutend sind, können sie doch nicht den morali­schen Zusammenhalt erzeugen, den die Mensch­heit braucht.« Das kann allein ‑ »mangels eines besseren Wor­tes die Spiritualität« leisten. Und dann zitiert Neuhaus den fran­zö­sischen Schriftsteller und Kulturpo­litiker André Malraux: »Das nächste Jahrhundert wird reli­giös sein oder überhaupt nicht.«[6] Als sich im August 1997 das katholische Frankreich für die Weltjugendtage rüstete, befürchteten die Veranstalter, dass sie einen Riesenflop gestartet hatten. Nur 70.000 Franzosen hatten sich angemeldet, um gemeinsam zu feiern und den Papst zu sehen. Doch dann kam es ganz anders.  750.000 Menschen reisten an, ein Drittel aus dem Ausland. Und die konservative Tageszeitung Le Figaro sprach von einem »spirituellen Erdbeben«.[7] 
Das Streben der Menschen nach Gemeinschaft ist ungebrochen. 

Nachsatz 2017: Schon deshalb freue ich mich auf den heutigen Abend.

Forsetzung: 
Was heute Google & Facebook darstellen, war vor zwanzig Jahren die Macht der Microsoft Corp. und deren Gründer Bill Gates. Damals befürchtete ich, dass dem Internet dasselbe passieren würde wie dem christlichen Glauben - es würde ein "Produkt der Mächtigen". Vor diesem Hintergrund setzte ich obigen Text wie folgt fort - und stelle heute fest: So weit weg von dem, was heute passiert, war ich gar nicht, oder?


"Wird nun das Internet die Peterskirche des nächsten Jahr­tau­sends? Dann wäre es erneut ein Produkt der Mächtigen. 1506 hatte der Kunstmäzen Papst Julius II., der den Maler Raf­fael sponserte und dessen Grabmal Michelangelo schuf, den Grundstein für den Neubau des Doms gelegt. Mit dem Entstehen dieses Prachtbaus wurde die Zer­rüttung der Kir­che vollends deutlich. Als Nachfolger des berüchtig­ten und skrupel­losen Papstes Alexander VI. war der Kirchenfürst, übrigens Vater dreier Töchter, 1503 selbst durch Bestechung ins Amt gekommen. Il Terrible (Der Schreckliche), wie er genannt wurde, wußte seine per­sönlichen In­ter­­essen zu wahren. Aber sie waren noch deckungs­gleich mit denen der Kirche.[8] Vollends auf dem Weg der Verwelt­lichung befand sich dann nach seinem Tod 1513 die katholische Kir­che. Der Medici‑Papst Leo X. kam an die Macht, und er war nun mit den überbordenen Finanzierungskosten der Ba­si­li­ca konfrontiert. 1514 erließ er ein Ablaßdekret, das sich der Markgraf von Brandenburg Albrecht II., Erzbischof von Magde­burg, für seine ehrgeizigen politischen Ziele zunutze machen such­te. Er wollte zusätzlich noch den Posten als Erzbischof von Mainz, um so zugleich Kurfürst zu werden. Ein höchst lukratives Amt, denn als Kurfürst hatte er Sitz und Stimme bei der Wahl des nächsten Kai­sers. Dieses Stimmrecht ließ sich in bare Münzen oder neue Pri­vi­legien verwandeln. Für 24.000 Goldgulden, das ent­sprach den Jah­res­einnahmen des Kaisers, übergab ihm Papst Leo die Pfrün­de. Natürlich hatte der Markgraf das Geld nicht zur Hand. Er lieh es sich bei den Fuggern, den Augsburger Frühkapitalisten. Zurückzahlen wollte er es durch die Hälfte der Einnahmen aus dem Ablaßbrief, die andere Hälf­te ging nach Rom zur Finanzierung der Peterskirche. Bis zu 25 Gold­gul­den kostete ein Ablaß. Die Kirche war ein einziges korrup­tes Geschäft, ein »Königreich der Sünde«, wie es Luther nannte. 
Nachsatz 2017:  Wenn wir die Börsenkapitalisierung mancher Internet-Unternehmen anschauen, dann sind diese nur gerechtfertigt durch die immense Macht, die wir glauben, dass diese Firmen über unser Leben im Cyberspace haben 


[1] Die Welt, 6.1.1996, Gerhard Besier: »Held, Narr oder nur ein Mensch?«
[2] Thomas Mann, Frankfurt,  Deutschland und die Deutschen. Gesammelte Werke, 11. Band
[3] Ti­me, 17.10.1983, Richard N. Ostling, Roland Fla­mini, Wanda Mencke‑Glückert: »Luther: 500 Years Young«
[4] Time, 15.6.1998, Charles Krauthammer: »Will it be coffee, tea or He? «
[5] Time, 28.11.1994, Kenneth L. Woodward: »On the road again«
[6] Wall Street Journal, 11.7.1995, Richard John Neuhaus: »The Religious Century Nears«
[7] The Economist, 30.8.1997: »Holy love-in«, danach zitiert
[8] Die Welt,4.12.1993, Thomas Teupitz: »Jeder Zoll ein Kirchenfürst der Renaissance«
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen